Digitalisierung

Konstant ist nur der Wandel

Wie die Digitalisierung die berufliche Bildung verändert
Kommentar von Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser
Die Digitalisierung der Wirtschaft ist ein seit Jahren zu beobachtender Prozess, der Technologien, Arbeits- und Geschäftsprozesse sowie die Arbeitsaufgaben der Fachkräfte in den Unternehmen verändert und teilweise radikal neu bestimmt. Dies gilt für das produzierende Gewerbe, für Dienstleister, für den öffentlichen Dienst, ja praktisch für die gesamte Arbeitswelt. Was bedeutet all dies für die Berufsbildung?
Im Folgenden möchte ich zwei Aspekte ins Zentrum rücken: zum einen die Systemebene, zum anderen Schrittmacherunternehmen. Auf der Systemebene erkennen wir, dass sich in den kommenden Jahren der Fachkräfte- und Qualifikationsbedarf noch deutlicher verändern wird als dies bisher schon der Fall ist. Ein Bedarfszuwachs wird sowohl bei IT-Kernberufen als auch bei IT-Mischberufen erwartet. Es zeichnet sich ferner ein Strukturwandel hin zu mehr Dienstleistungen ab. Gemeint sind damit auch Industriedienstleistungen, also solche, die produzierende Unternehmen unterstützen und Support sichern.
Dies kann beispielsweise die Entwicklung von maßgeschneiderten Softwareapplikationen betreffen, die Anpassung oder die Erweiterung von Netzwerken oder die Gewährleistung der Datensicherheit und des Datenschutzes innerhalb eines Unternehmens und in Produktionsnetzwerken. Unternehmen sind früher oder später vor die Frage gestellt, ob sie diese Dienstleistungen weiterhin extern zukaufen oder ob sie diese zum Teil ihrer eigenen Geschäftsprozesse machen und als Qualifikationen vorhalten.
Bei unseren Praxiskontakten und Kooperationen mit Unternehmen und zuständigen Stellen beobachten wir, dass auf der Umsetzungsebene mit den Herausforderungen der Digitalisierung sehr unterschiedlich umgegangen wird. Wir erkennen dabei Schrittmacherunternehmen.
Schrittmacherunternehmen zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre Berufsausbildung im Dialog mit anderen Unternehmensbereichen regelmäßig neu analysieren, bewerten und weiterentwickeln. Dies kann anlassbezogen sein (z. B. bei Einführung neuer Produktreihen oder veränderter Geschäftsprozesse, etwa durch die immer vollständigere Integration von Enterprise-Resource-Planning-Systemen, ERP) oder zyklisch in Abständen von drei bis fünf Jahren erfolgen.
Dabei geht es zunächst um die quantitative Seite der Berufsausbildung und die Frage, in welchen Berufen wie viele Ausbildungsplätze vorzuhalten sind. Geprüft wird hier ferner: ob im Unternehmen durch die Digitalisierung neue Arbeitsaufgaben – und damit veränderte Tätigkeitsprofile – entstehen; welche Ausbildungsberufe im dualen Berufsbildungssystem verfügbar sind, die bisher im Unternehmen nicht ausgebildet werden; und welche Ausbildungsberufe nicht mehr dem betrieblichen Bedarf entsprechen.
Schließlich ist für diese Unternehmen auch wichtig, die Ausbildungsgestaltung in den einzelnen Berufen aktuell und zukunftssicher zu gestalten. Das heißt, die Verantwortlichen überarbeiten berufsbezogen regelmäßig betriebliche Ausbildungspläne, gestalten Ausbildungsabschnitte um, setzen auf veränderte und neue Ausbildungsmittel, realisieren mit Auszubildenden gemeinsam Projekte, initiieren Lernaufträge und beschaffen geeignete Lehr- und Lernmittel; sie reorganisieren auch Verbundmodelle oder Versetzungspläne. Neue Ausbilder und Ausbilderinnen werden gewonnen, manche wechseln in andere Fachbereiche und bringen dort ihre Kompetenzen ein. Betriebsintern organisierte Fortbildungsmaßnahmen werden überdies mit Ausbildungsmaßnahmen verknüpft – Auszubildende und Berufserfahrene lernen so gemeinsam.
Diese und weitere Aktivitäten stellen an alle Ausbildungsbeteiligten hohe und zusätzliche Anforderungen. Im Ergebnis verbessern die Maßnahmen die Ausbildungsqualität sowie die Identifikation und die Motivation der Ausbildenden und der Auszubildenden. Die Zusammenarbeit zwischen Ausbildungsabteilung, Fachabteilungen und der Personalentwicklung gewinnt an Qualität. Berufsbildung erhält zumal durch die Digitalisierung einen höheren betrieblichen Stellenwert.
Die Schrittmacherunternehmen können auch innerhalb einer Region oder eines Branchennetzwerks Vorbilder sein. Wir finden sie in allen Ausbildungsbereichen, z. B. im Hotel- und Gaststättengewerbe, im Einzelhandel, bei den freien Berufen, in der chemischen Industrie, in Unternehmen des Maschinenbaus und der Automobilindustrie. Die zuständigen Stellen können hier partizipieren und durch ihre Aktivitäten mögliche Transferprozesse wesentlich unterstützen.
Veränderungen auf der Systemebene und das Phänomen der Schrittmacherunternehmen sind nur zwei, jedoch bedeutsame Aspekte, die im Zuge der Digitalisierung auffallen. Sie verweisen einmal mehr darauf, dass Berufsbildung sowohl Berufsausbildung als auch betriebliche Fortbildung umfasst: zwei wesentliche Instrumente der Personalentwicklung, um Qualifizierungen in einem Unternehmen lang-, mittel- und kurzfristig mit Veränderungen in Einklang zu bringen – in einem Prozess, dessen einzige Konstante der Wandel ist.
„Nur aktive Personalentwicklung bringt die Qualifizierungen in einem Unternehmen mit den Veränderungen in Einklang.“
Zur Person:
Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser ist Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) in Bonn.