Industrie 4.0

Gute Produkte reichen langfristig nicht aus

Als fortschrittliche Industrienation müssen wir den Anspruch haben, die digitale Revolution zu gestalten. Denn weder können wir die Digitalisierung aufhalten, noch unsere Geschäftsmodelle davor abschotten.
 
Eine Vision für die digitale Vernetzung unseres industriellen Kerns haben wir mit Industrie 4.0 entworfen. Intelligente Produkte, Maschinen und Lagersysteme kommunizieren miteinander und steuern die Produktion aktiv mit. Produktionsprozesse können in Echtzeit optimiert werden. Sie werden ressourcenschonender und hochflexibel. Wollen wir diese Revolution gestalten statt von ihr getrieben zu werden, ist der Transfer von Industrie 4.0-Konzepten in kleine und mittlere Unternehmen eine zentrale Voraussetzung. Doch Umfragen zeigen, dass erst 40 Prozent der Unternehmen in diesem Bereich aktiv sind. Die Vorreiter, die mit innovativen Einzeltechnologien oder Modellfabriken den Wandel als Chance nutzen, sind deshalb sehr wichtig.

Doch die digitale Transformation macht nicht an den Fabrikzäunen halt. Sie reicht tiefer, betrifft alle Branchen und stellt deren etablierte Geschäftsmodelle auf den Kopf. Der Ausgangspunkt ist das Internet der Dinge: Moderne Autos sind vernetzte Multisensoren mit über 150 Computerchips, ein großer Teil der hierzulande hergestellten Maschinen ist im Betrieb bereits online. Nahezu alle Produkte sind digital anschlussfähig. Die Dinge vernetzen sich, sie tauschen Informationen über sich und ihre Umwelt aus und sie kommunizieren mit uns. „Soll ich Ihnen Restaurants in Ihrer Nähe anzeigen?“ wird in Zukunft noch eine der trivialeren Fragen sein. Heute sind bereits 15 Milliarden Objekte vernetzt. Im Jahr 2020 wird ein Anstieg auf 50 Milliarden vernetzte Objekte erwartet.

Smart Services setzen sich durch

Die Daten, die im Internet der Dinge entstehen, treiben einen Paradigmenwechsel. Gute Produkte reichen langfristig nicht aus: Erfolgreich ist, wer das größte Verständnis für die Kunden, ihre Bedürfnisse und Vorlieben entwickelt, denn zukünftig stellen sie sich individualisierte Produkt-Service-Pakete – Smart Services – via Internet zusammen. Im Konsumentenbereich ist das schon Alltag. Mit Mobilitäts-Apps kombinieren wir die passenden Verkehrsmittel für den schnellsten Weg zum Ziel. Auktionsplattformen und Online-Marktplätze haben den Handel tiefgreifend verändert, Hotel- und Reisebuchungsportale den Tourismussektor. Wer aus Kunden- und Betriebsdaten passgenaue Smart Services schafft, bestimmt das Geschäft.

Auch in den Beziehungen zwischen Unternehmen werden Smart Services immer wichtiger. Industrieanlagen werden ‚as a service‘ geleast, Technologiedaten auf Marktplätzen gehandelt. Müssen Anlagen heute noch mit hohem personellem und zeitlichem Aufwand optimiert werden, könnten zukünftig Anlagenhersteller, -betreiber und Materiallieferanten eine Plattform schaffen, auf der sie Prozessparameter für komplexe Produktionssysteme handeln und zum Download bereitstellen.

Das Risiko für etablierte Produzenten und Dienstleister besteht im Verlust der Kundenschnittstelle. Der Wettlauf um diese Schnittstelle und Daten ist bereits entbrannt. Er wird sich in den kommenden fünf Jahren entscheiden. Mit einem Maschinen- und Anlagenbau von Weltrang, hochmodernen Produkten, qualifizierten Fachkräften und einer leistungsfähigen Forschungslandschaft verfügt Deutschland über gute Ausgangsbedingungen. Doch schon heute investieren IT- und Internetunternehmen, die im wesentlichen Daten besitzen, rund um den Globus in Bereichen der ‚Hardware‘ wie Produktion, Logistik, Handel und Automobil. Gelingt es ihnen, sich zwischen Hersteller und Kunden zu setzen, könnten traditionsreiche Unternehmen sich langfristig als deren Dienstleister wiederfinden.

Chancen liegen in der Vernetzung

Oft reichen die eigenen Kompetenzen als Produzent oder Dienstleister nicht aus, um den Paradigmenwechsel vom produkt- zum servicegetriebenen Geschäftsmodell zu vollziehen. Kooperation ist deshalb der Schlüssel zum Erfolg. Marktteilnehmer und Branchen, zwischen denen vormals keine geschäftliche Beziehung bestand, vernetzen sich. Gerade kleine und mittlere Unternehmen können sich in der Smart Service Welt als spezialisierte Anbieter positionieren. Für sie könnte eine von der Bundesregierung initiierte und im IT-Gipfelprozess verankerte Innovationsplattform den Wissenstransfer und die Konsortialbildung fördern. Wir müssen auch die Beschäftigten mitnehmen, etwa durch Weiterbildungsmöglichkeiten. Dabei spielen die Industrie- und Handelskammern eine wichtige Rolle, denn sie genießen gerade bei kleinen und mittleren Unternehmen großes Vertrauen in diesem Bereich.

Wenn wir entschlossen die Digitalisierung gestalten, schaffen wir Wertschöpfung, Arbeitsplätze und Wohlstand. Verharren wir in Nischen der Marktführerschaft, dann könnten unsere Marktführer von heute die austauschbaren Zulieferer von morgen werden. Wir müssen in die Smart Service Welt aufbrechen, indem wir uns öffnen und über Branchengrenzen hinweg kooperieren. Abschotten ist keine Alternative.

„Industrie 4.0 meint im Kern die technische Integration von Cyber-Physical Systems in die Produktion und die Logistik sowie die Anwendung des Internets der Dinge und Dienste in industriellen Prozessen – einschließlich der sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Wertschöpfung, die Geschäftsmodelle sowie die nachgelagerten Dienstleistungen und die Arbeitsorganisation.”

Zur Person:
Prof. Dr. Henning Kagermann
Der habilitierte Physiker Henning Kagermann arbeitet heute als Präsident der Wissenschaftsakademie Acatech, Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, daran, den Standort Deutschland auf eine digitalisierte und vernetzte Weltwirtschaft vorzubereiten. In der Forschungsunion, ein Gremium, das das Bundesforschungsministerium in Sachen High-Tech-Standort Deutschland berät, leitet Kagermann die Promotorengruppe Kommunikation. Hier entstanden erste Ideen und Initiativen zum Thema Industrie 4.0.